Presseartikel

Berliner Zeitung vom 02.04.2014

Angst vor „gruseligen Plänen des Senats“

von Melanie Reinsch

Dirk Wagner gilt als Exot, wenn er sich auf sein Einrad schwingt. Doch es interessieren sich immer mehr für den Sport. Auf dem Tempelhofer Feld kann man Kurse buchen und Einräder ausleihen. Platz zum Üben gibt es genug – noch. Wagner befürchtet, dass die Bebauung das Feld negativ verändern wird.

Erst haben die Freunde sein neues Hobby belächelt. Ob er in der Midlife-Crisis sei, haben sie gefragt und sich amüsiert. Doch jetzt erntet der 44-jährige Dirk Wagner meist Bewunderung, wenn er sich lässig auf sein Einrad schwingt und in die Pedalen tritt.

Erst vor drei Jahren entdeckte er den Sport für sich neu. „Ich habe Einradfahren schon vor zehn Jahren mal probiert, aber frustriert aufgegeben“, sagt Dirk Wagner, der groß, drahtig und sportlich ist. Das Einrad wanderte in den Keller und verstaubte. Diese Kapitulation wollte er jedoch nicht auf sich sitzen lassen. Als Marathonläufer und Bergwanderer liebt er Herausforderungen. Im Internet stieß er auf die Einradschule Dingadu, die auch auf dem Tempelhofer Feld Kurse anbietet und Einräder verleiht.

Von Kapitulation kann inzwischen keine Rede mehr sein, wenn der Berliner auf seinem 92-Zoll-Einrad im Slalom um Hütchen fährt und seine Runden auf dem Feld dreht. Dahinter steckt natürlich viel Training. Regelmäßig trifft er sich mit anderen erwachsenen Einradfahrern, übt Choreographien ein und probt Tricks.

Dingadu auf dem Tempelhofer Feld

Fast jedes Wochenende trifft sich Dirk Wagner mit anderen Einradfahrern auf dem Tempelhofer Feld an der Einradschule Dingadu. Foto: Paulus Ponizak

Fast jedes Wochenende fährt er auf seinem Rad über die asphaltierten Wege des Tempelhofer Feldes, mischt sich unter die zahlreichen Freizeitsportler und beobachtet das Treiben. „Ich brauche das als Ausgleich zu meinem Job“, sagt Wagner, der als Referent in der Bundestagsverwaltung arbeitet. Und natürlich genießt er es auch ein bisschen, auf seinem Rad als Exot zu gelten.

Die Menschen gucken, fragen nach und freuen sich, wenn sie einen Einradfahrer sehen. „Ob man verrückt sein müsse, um so etwas zu können, fragen sie mich dann“, erzählt Wagner. Verrückt nicht. Aber vielleicht mutig genug, um Neues auszuprobieren.

Dass der Sport es aus den Zirkuszelten hinaus in die Öffentlichkeit geschafft hat, dafür ist sicherlich auch Joseph Wolff mit verantwortlich. Der Artist Eywie, so lautet sein Künstlername, unterrichtet Einradfahrer unter anderem auf dem Tempelhofer Feld. Auch Dirk Wagner hat vom „Meister“ gelernt, und er lernt immer noch. „Es werden immer mehr Neugierige. Früher interessierten sich nur Kinder dafür, jetzt sind etwa 30 Prozent meiner Schüler Erwachsene“, sagt Eywie.

Warum auch nicht? Einradfahren trainiert die Koordination und das Gleichgewicht, es stärkt die Grundspannung im Körper. „Wenn ich einradfahre, habe ich keine Zeit mehr, an irgendetwas anderes zu denken, das erfordert meine volle Konzentration“, erklärt Dirk Wagner.

  • Voraussetzungen

    VoraussetzungenWer einen guten Gleichgewichtssinn hat, ist sicher im Vorteil. Wer ihn noch nicht hat, lernt ihn dann. Mut, etwas Neues zu probieren.

  • Wo?

    Auf dem Tempelhofer Feld, auf Parkplätzen, auf großen Freiflächen mit möglichst glattem Beton.

  • Was braucht man?

    Ein Einrad und sicherheitshalber auch Helm, Hand- und Knieschoner. Ein Einrad bekommt man für etwa 100 Euro, für Kinder geht es schon ab etwa 60 Euro los.

  • Woher

    Ausleihen kann man sich Einrad bei der Einradschule Dingadu, direkt am Tempelhofer Feld am Eingang Tempelhofer Damm an einem der Container. Zu kaufen gibt es sie zum Beispiel im kleinen Zirkusladen in Charlottenburg.

Das Tempelhofer Feld bietet dafür ein perfektes Übungsterrain. „Hier entwickeln sich zahlreiche Sportarten, die ein großflächiges asphaltiertes Areal benötigen.“ Skater, Windskater, Board-Kiter, Läufer, Rennradfahrer – das Tempelhofer Feld ist groß genug für alle, groß genug, damit man sich nicht ins Gehege kommt. Noch.

Ein Fünftel der Fläche soll bebaut werden, ginge es nach den Plänen des Senats. Die Fläche, auf der Eywie momentan seine Kurse anbietet und Dirk Wagner seine Tricks einstudiert, müsste dann Wohnungen und der Zentral- und Landesbibliothek weichen.

„Gruselig sind diese Pläne“, findet Dirk Wagner, „mich regt das auf.“ Wirtschaftlich mache es keinen Sinn, da Berlin genügend Brachflächen habe, sagt er. Das Thema brennt ihm merklich auf der Seele, die Worte sprudeln nur so heraus. „Dieses Areal sucht weltweit seinesgleichen. Berlin verschenkt ohne Not diese Besonderheit, wenn hier alles zugepflastert wird.“ Er befürchtet, dass der Park irgendwann ein Park wie jeder andere wird. Ohne Charakter.

Dabei sieht Dirk Wagner auch im Gesetzentwurf der Initiative 100 % Tempelhofer Feld keine wirkliche Alternative. „Das ist das andere Extrem“, sagt er. Eine moderate Bebauung, die aber den äußeren Ring und auch die beiden Landebahnen in ihrem jetzigen Zustand beibehält, kann sich Dirk Wagner durchaus vorstellen.

Aber solange es kein besseres Gegenkonzept gibt, unterstützt er die Pläne der Bebauungsgegner, so wie es auch die Linken, die Piraten und die Grünen empfehlen: Lieber erst mal „Nein“ sagen zur Bebauung, bevor zu viel und dann noch etwas Falsches gebaut wird.

So empfinden es offenbar immer mehr Berliner. Vielleicht liegt hier die Chance der 100%-Initiative, den Volksentscheid für sich zu gewinnen. „Nach dem jetzigen Stand glaube ich, dass sie es schaffen können“, ist Dirk Wagner überzeugt.