Bloß kein Enten-Po
Mein Magen zieht sich zusammen, als ich über das Tempelhofer Feld zum Treffpunkt mit Eywie Wolff radele. Erstaunt stelle ich fest: Mir ist etwas mulmig. Dabei habe ich für die Berlin-bewegt-sich-Seite schon Spektakuläreres ausprobiert: Ich bin bei Parkour von Mauer zu Mauer gesprungen. Oder habe mich auf einem Skateboard stehend von einem Drachen über das Tempelhofer Feld ziehen lassen. Nie war ich vorab in Sorge, dass der Selbstversuch in einem Arbeitsunfall endet. Diesmal schon. „Es ist noch nie einer gestürzt, zumindest nicht im Kurs. Und ich mache das jetzt seit 15 Jahren“, beruhigt mich Eywie Wolff. Der Mann mittleren Alters kramt aus einem Container auf demTempelhofer Feld Ellenbogen- und Knieschnützer hervor. Der weiße Container gehört zu Wolffs Talenteschule Dingadu. Dort kann man allerlei Zirkuskunst lernen, Jonglieren etwa, das Laufen auf
einer Kugel oder eben Einradfahren. Haltung üben auf dem E-Wheel Eywie Wolff passt rein optisch prima dazu – mit seinen verschieden farbigen Schuhen erinnert er ein bisschen an den Clown, der auf der Dingadu-Homepage zu sehen ist.
Aus dem Kunststoffpolster-Berg suchen wir – zwei Mädchen und zwei Frauen – uns passende Schützer heraus. Die sechsjährige Dana und ihre Mutter Josefine sind schon zum zweiten Mal hier, für die siebenjährige Maya ist es wie für mich das erste Mal. Etwa in dem Alter der Mädchen waren auch meine beiden Nichten, als sie diesen Sport entdeckten. Die Größere hatte ein Einrad geschenkt bekommen. Sie versuchte, sich das Aufsteigen und Fahren alleine beizubringen, doch das wollte nicht so recht klappen. Sie lernte es erst bei einem Kurs, den ein Sportverein anbot. In der Turnhalle wurde aus zwei Sprungkästen eine Art Startbox gebaut – an der die Kinder rechts und links Halt fanden. Es dauerte nicht lang, und sie konnte frei fahren. Da bekam auch ihre kleine Schwester Lust. Und jetzt noch ihre Tante. Eywie Wolff hat sich ein anderes Hilfsmittel einfallen lassen, das es
seinen Schülern erleichtert, das Gleichgewicht zu halten und den richtigen Sitz zu finden: eine Stange. Eywie – unbewusst sind wir zum Du übergegangen – und Josefine halten die Stange rechts und links fest, ich lege meine Hände schulterbreit darauf. Das Einrad steht schräg vor mir, der Sattel klemmt zwischen meinen Beinen. Eywie justiert die Pedale
so, dass das rechte unten ist. Denn mit dem rechten Fuß soll ich aufsteigen. Mich in den Sattel zu hieven, geht leichter als gedacht. Als ich oben sitze, erklärt mir Eywie die richtige Haltung. „Kopf hoch, Schulterblätter zusammen, Brustbein raus, Hüfte gerade. Und lächeln.“ Ganz aufrecht also soll ich im Sattel sitzen, die Wirbelsäule quasi als Verlängerung der Sattelstange und der kleinen Fläche, an der der Reifen den Boden berührt. „Gerade wie ein König oder eine Königin sitzen“, heißt es auch. Doch die „Königin“ neigt zum Enten-Po. Als ich die ersten Meterfahren soll, als sich also Josefine und Eywie mitsamt der Haltestange langsam vorwärts bewegen und ich zaghaft die Pedale trete, kippt mein Becken aus der Senkrechten, das Einrad rutscht nach hinten weg und ich stehe – völlig unbeschadet – auf der Erde. „Das lag am Enten-Po, mit dem bin ich auf Konfrontation“, sagt mein Lehrer.
Josefine hat den Dreh schon raus. Mühelos steigt die Frau aus Friedrichshain auf, ihr genügt Eywies Hand, die Stange braucht sie nicht mehr. Und sie schafft es auch, sich
einige Meter flüssig und ruhig vorwärtszubewegen. Josefine sieht wirklich aus wie eineKönigin, wie sie da mit ihrem Rapunzelzopf im Sattel thront, ein Strahlen im Gesicht.
Bei den beiden Mädchen und bei mir klappt es auch in den nächsten Anläufen bei weitem nicht so gut, das Aufsteigen kriegen wir alle hin, aber an der Vorwärtsbewegung hapert es. Eywie weiß natürlich auch, woran das liegt: an der nicht ganz aufrechten Körperhaltung. So machen wir eine Trockenübung zu Fuß: Wir laufen über den Asphalt, das Becken voranschiebend, der ganze Körper durchgebogen. Das ist auch die Haltung, die man braucht, um das E-Wheel in Bewegung zu bringen und zu bremsen. Das E-Wheel ist ein anderes Hilfsmittel, das Eywie in seinen Kursen einsetzt. Ein elektrisch angetriebenes Rad von vielleicht 40 Zentimetern Durchmesser, das rechts und links zwei Standflächen für die Füße hat. Beschleunigt und gebremst wird es allein über die Körperhaltung. Das ungewöhnliche, leicht zu bedienende Gefährt lockt auch die Mädchen wieder heran, die zwischenzeitlich andere Fahrgeräte interessanterfanden, die Eywie aus seinem Container herausgeholt hat und die leichter zu beherrschen sind als das Einrad. „Dana ist etwas gefrustet, weil ihre eigene Erwartung nicht mit ihrer Leistung übereinstimmt“, analysiert ihre Mutter, „aber ich finde Einradfahren total cool.“
Etwa acht bis zwölf Stunden Üben benötigt man erfahrungsgemäß, bis man alleine aufsteigen und ohne Hilfe fahren kann, sagt unser Lehrer. Er selbst hat es sich in jungen
Jahren und aus einer gewissen Notsituation heraus selbst beigebracht. Jonglieren sei zunächst seine eigentliche Passion gewesen, erzählt der gebürtige Bielefelder. Aber dann
musste er wegen einer Sehnenscheidenentzündung pausieren. Mit eingegipstem Arm suchte er eine Alternative zum Jonglieren und kam aufs Einrad. „Die Leute haben dann gesagt: Er kann’s einfach nicht lassen, jetzt hat er sich schon den Arm gebrochen, aber er lässt einfach nicht vom Einrad.“ Einen Lehrer habe er nicht gehabt, Einrad-Kurse habe es
damals noch nicht gegeben. Die erste kommerzielle Einradschule soll 1993 in Köln gegründet worden sein.Da lag die Erfindung des Einrades schon mehr als 100 Jahre
zurück. Die ersten funktionierenden Exemplare seien im 19. Jahrhundert auf den Markt gekommen, schrieb Arne Tilgen – Einrad-Weltmeister von 1998 – einmal in einer Studien-Arbeit. Anfangs reiner Männersport Bis 1920 sei der Sport hauptsächlich von Männern ausgeübt worden, auch weil es unmöglich war, einen – wegen der Kleider nötigen – Damensattel auf einem Einrad anzubringen; heute dagegen stellten Mädchen die größte Gruppe bei den Einradfahrern. Beim Einradverband kennt man aktuell rund 10 000 Aktive hierzulande. „Aber es gibt sicher viel mehr, weil nur ein kleiner Teil in Vereinen organisiert und uns bekannt ist“, sagt die Verbandsvorsitzende Petra Plininger. Gerade laufen die Vorbereitungen für die Deutsche Meisterschaft Mitte Oktober, zu der knapp 300 Starter erwartet werden.
„In meinen Kursen geht es nicht um Leistung, sondern um Spaß und Haltung“, sagt Eywie Wolff, der inzwischen hauptberuflicher Einradlehrer ist. Die Menschen würden viel
leichter Einradfahren lernen, wenn sie vorher nicht Zweirad fahren könnten, sagt er. Denn auf dem klassischen Rad gewöhnt man sich eine nach vorne geneigte Haltung an.
Daran muss ich denken, als ich nach Hause radele. Und an eine Textpassage über das Verletzungsrisiko: „Beim Einrad-Fahren ereignen sich selten Stürze, man kommt in den allermeisten Fällen auf den Füßen auf. Das Verletzungsrisiko ist beim Einrad geringer als beim Fahrrad.“